Zwischen Konflikt und Kompromiss

Welche politischen Fragen polarisieren die Schweiz?

Wir beleuchten die Polarisierung mit einer neuen Studie

Wie polarisiert ist die Schweiz? Entlang welcher Fragen und zwischen welchen Gruppen ist die Schweiz besonders polarisiert? Welche Auswirkungen hat die Polarisierung auf das Verhalten der Schweizer Bevölkerung?

Um Antworten auf diese und andere Fragen zu finden, haben Pro Futuris und die Stiftung Mercator Schweiz Anfang Sommer 2024 eine nationale Bevölkerungsumfrage durchgeführt. Jetzt sind die Resultate da.

In einem ersten Schritt richten wir den Blick auf die Polarisierung der Schweizer Bevölkerung rund um acht brennende politische Sachfragen. Welche Themen polarisieren stark, welche weniger? Und besteht ein Zusammenhang zwischen affektiver Polarisierung und Kompromissbereitschaft?

Titel

Zwischen Konflikt und Kompromiss

Untertitel

Welche Fragen polarisieren die Schweiz

Publikationsdatum

2. Dezember 2024

Autor:innen

Ivo Nicholas Scherrer, Isabel Schuler, Flurina Wäspi

Inhalt

Mit dieser Studie leisten wir einen Beitrag zum Verständnis, bei welchen politischen Fragen die Schweizerinnen und Schweizer auseinanderdriften, wo das politische Klima als verhärtet wahrgenommen wird und wo die Kompromissbereitschaft höher ist als oft angenommen.

Medienkontakt

Ivo Scherrer
ivo.scherrer@profuturis.ch, +41 78 808 10 96

Die Ergebnisse in Kürze

Eine deutliche Mehrheit von 70% der Befragten empfindet, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt in den letzten Jahren abgenommen habe. Besonders stark polarisiert sind die Meinungen und Emotionen der Schweizerinnen und Schweizer, wenn es um die Zuwanderung, die Unterstützung der Ukraine und Pandemiemassnahmen geht.

Bei der Frage, ob die Zuwanderung eingeschränkt oder erleichtert werden sollte, ist die affektive Polarisierung besonders ausgeprägt: So begegnet ein grosser Anteil der Bevölkerung Personen, die sich für eine Erleichterung der Zuwanderung aussprechen, mit äusserst starken Antipathien.

Affektiv am wenigsten stark polarisieren die Ausgestaltung des Sozialstaats, die Gleichstellung von Frauen und der Schutz sexueller Minderheiten. Umso bemerkenswerter ist, dass die Bevölkerung der Ausgestaltung sozialstaatlicher Leistungen und der Gleichstellung eine äusserst hohe Bedeutung beimisst. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird ausserdem von fast 60% der Befragten als jener Graben wahrgenommen, der die Schweiz am stärksten spaltet.

Im Vergleich zu den anderen Fragen polarisieren der Klimaschutz und die Beziehungen zur EU affektiv mittel stark.

Wähler:innen der SVP und SP sind im Schnitt affektiv am stärksten polarisiert und zeigen die ausgeprägtesten Antipathien gegenüber Menschen, welche in den acht Sachfragen eine starke Gegenposition einnehmen. Ebenso sind ältere Generationen und politisch aktive Menschen eher affektiv polarisiert.

SVP-Wähler:innen schätzen sich im Vergleich zu anderen Parteiwähler:innen bei allen sachpolitischen Fragen als am wenigsten kompromissbereit ein. Über alle Altersklassen hinweg geben jüngere Menschen in allen Sachfragen die höchsten Werte für ihre eigene Kompromissbereitschaft an.

Polarisierung nach politischen Sachfragen

Polarisierung der Meinungen

Bei den Pandemiemassnahmen ordnen sich mit 48,3% deutlich mehr Menschen einer Polposition (Massnahmen klar notwendig bzw. klar abzulehnen) als der Mitte zu (23%). Auch bei der Zuwanderung und der Unterstützung der Ukraine nehmen mit knapp 40% deutlich mehr Menschen eine Pol- als eine Mitteposition ein (je knapp 30%).

Umgekehrt verhält es sich bei der Gleichstellung von Frauen, dem Schutz sexueller Minderheiten, der Ausgestaltung des Sozialstaats und den Beziehungen zur EU. Bei diesen Fragen nehmen jeweils zwischen 42% und 44% eine Mitteposition ein, während lediglich zwischen 26% und 30% eine der jeweiligen Polpositionen wählen.

Polarisierung der Emotionen

Affektiv polarisiert eine Frage dann stark, wenn Personen mit gegensätzlichen Polpositionen emotional sehr unterschiedlich bewertet werden.

Insbesondere die Einstellung zum Ausmass der Zuwanderung polarisiert affektiv besonders. 21% der Befragten bewerten Menschen, die entgegengesetzte Positionen zur Zuwanderung einnehmen stark unterschiedlich. Neben der Zuwanderung polarisieren besonders die Einstellungen zu Pandemiemassnahmen und dem Krieg in der Ukraine stark affektiv.

Besonders gering affektiv polarisiert sind die Befragten in Bezug auf den Umfang sozialstaatlicher Leistungen und die damit verbundene Steuerlast (nur 8,6% sind maximal polarisiert).

Emotionen gegenüber Polpositionen

32% der Befragten haben sehr negative Gefühle gegenüber Menschen, die klar für eine Erleichterung der Zuwanderung sind. Gerade einmal 7,9% haben gegenüber Menschen mit dieser Haltung sehr positive Gefühle.

Am zweithäufigsten werden negative Gefühle Menschen entgegengebracht, die im Falle einer Pandemie weitreichende Eingriffe in die Freiheit des Einzelnen grundsätzlich klar ablehnen (27,5% sehr negative vs. 15,1% sehr positive Gefühle) sowie Personen, die die politischen Massnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und zur Gleichstellung von Frauen in der Gesellschaft als zu weitreichend empfinden (beide je 23% sehr negative Gefühle vs. 11,2% bzw. 7% sehr positive Gefühle).

Polarisierung nach demografischen Merkmalen

Affektive Polarisierung entlang gesellschaftlicher und politischer Gruppen

SVP- und SP-Wähler:innen sind auf einer Skala von 0-10 im Schnitt mit einem Wert von 4,0 am stärksten affektiv polarisiert.

Das bedeutet beispielsweise, dass SVP-Wähler:innen Menschen, die sich für eine Distanzierung von der EU aussprechen, sehr positiv bewerten und gegenüber Menschen, die eine Annäherung an die EU befürworten, sehr negativ empfinden.

Neben der Zuwanderung ist die SVP-Wählerschaft besonders mit Blick auf das Verhältnis zur EU, die Unterstützung der Ukraine und den Umgang mit Pandemien affektiv stark polarisiert. SP-Wähler:innen sind affektiv am stärksten mit Blick auf die Gleichstellung polarisiert, gefolgt vom Umgang mit Pandemien, der Unterstützung der Ukraine und dem Klimawandel.

Besonders hohe affektive Polarisierungswerte haben zudem glp-Anhänger:innen in Bezug auf den Umgang mit Pandemien und Grüne-Wähler:innen mit Blick auf den Klimaschutz. Wähler:innen der Mitte haben nur im Umgang mit Pandemien einen überdurchschnittlichen affektiven Polarisierungswert, FDP-Wähler:innen gar bei keiner einzigen Frage.

Kompromissbereitschaft entlang gesellschaftlicher und politischer Gruppen


Auch die Kompromissbereitschaft variiert stark zwischen Menschen mit unterschiedlichen Parteisympathien: So ist die SVP-Wählerschaft gemäss ihrer eigenen Einschätzung die am wenigsten kompromissbereite Gruppe. Konkret zeigen sich SVP-Wähler:innen mit Blick auf die Zuwanderung (Wert von 2,75/10) sowie beim Verhältnis zur EU (3,32/10) als am wenigsten kompromissbereit.

Am anderen Ende des Spektrums der Kompromissbereitschaft sind Wähler:innen der Grünen. Mit einem Schnitt von 5,75 schätzen sich diese selbst als die kompromissbereiteste Gruppe ein – und tun dies sogar mit Blick auf ihr Kernanliegen – die Klimafrage – mit einem Wert von 5,87.

‍Als am kompromissbereitesten schätzt sich die Stimmbevölkerung mit Blick auf die Gleichstellung von Frauen, die Ausgestaltung des Sozialstaats und den Klimaschutz ein. Am wenigsten kompromissbereit ordnet sie sich hingegen mit Blick auf die Zuwanderung, die Beziehungen zur EU und die Unterstützung der Ukraine ein.

Wie steht es um Deine Kompromissbereitschaft?

Was erklärt affektive Polarisierung?

Vergleich zwischen minimaler Kompromissbereitschaft, maximaler affektiver Polarisierung und maximaler subjektiv zugeschriebener Bedeutung

Höhere Werte an affektiver Polarisierung gehen gemäss unserer Studie im Schnitt mit einer tieferen Selbsteinschätzung zur eigenen Kompromissbereitschaft einher.

Einer politischen Frage einen hohen Stellenwert zuzuordnen, scheint jedoch kaum mit tiefer Kompromissbereitschaft einherzugehen. So ist die Gleichstellung von Frauen in der Gesellschaft beispielsweise für 27% der Befragten von maximaler Bedeutung. Gleichzeitig zeigen sich nur 7,5% bei derselben Frage minimal kompromissbereit.

Ähnlich verhält es sich für den Umfang sozialstaatlicher Leistungen: Dieses Thema ist für 22% von maximaler Bedeutung, es schätzen sich ihm gegenüber jedoch nur 5,6% als minimal kompromissbereit ein.

Ähnlich wenig Zusammenhang besteht in diesen Fragen zwischen der Bedeutung und der gemessenen affektiven Polarisierung: Nur ein verhältnismässig kleiner Anteil von 10,3% (Gleichstellung von Frauen) bzw. 6,2% (sozialstaatliche Leistungen) der Befragten ist hier sehr stark affektiv polarisiert.

Prädiktoren für affektive Polarisierung

Mit Hilfe eines statistischen Regressionsmodells haben wir berechnet, inwiefern sozio-demografische Merkmale und andere Faktoren mit einer hohen affektiven Polarisierung in Verbindung stehen. Die Tabelle gibt Auskunft über Faktoren, welche die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass jemand affektiv polarisiert ist, Faktoren, die diese Wahrscheinlichkeit verringern und Faktoren, für die wir keinen Einfluss auf die affektive Polarisierung gemessen haben.
Erhöhen (ceteris paribus) die Wahrscheinlichkeit, dass jemand affektiv polarisiert ist
Verringern (ceteris paribus) die Wahrscheinlichkeit, dass jemand affektiv polarisiert ist
Keinen Einfluss
Erhöhen (ceteris paribus) die Wahrscheinlichkeit, dass jemand affektiv polarisiert ist
  • Sprache / Sprachregion: Im Vergleich zu Deutschschweizer:innen zeigen frankophone Befragte signifikant höhere Werte für affektive Polarisierung.
  • Alter: Je älter eine Person, desto höher ist ihre Wahrscheinlichkeit, stark affektiv polarisiert zu sein.
  • Parteipräferenz: Im Vergleich zur Referenzkategorie der Mitte-Wähler:innen weisen insbesondere die Anhänger:innen der Polparteien SVP und SP sowie der Grünen eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit auf, stark affektiv polarisiert zu sein. Weniger stark ist der Zusammenhang mit einer Präferenz für die glp.
  • Politisches Interesse und politischer Aktivismus: Unabhängig von der Parteipräferenz zeigen sowohl politisch interessiertere als auch politisch aktivere Befragte im Vergleich zu politisch wenig interessierteren beziehungsweise wenig aktiveren Personen eine höhere Wahrscheinlichkeit, stark affektiv polarisiert zu sein.
  • Informationsquellen: Personen, die sich regelmässig über Gespräche in der Familie und über Social Media über Politik informieren, sind mit einer höheren Wahrscheinlichkeit affektiv polarisiert als Personen, die sich regelmässig über andere Quellen informieren.
Verringern (ceteris paribus) die Wahrscheinlichkeit, dass jemand affektiv polarisiert ist
  • Demokratiemüdigkeit: Personen, denen es nicht wichtig ist, in einer Demokratie zu leben beziehungsweise die es nicht lohnenswert finden, an Wahlen teilzunehmen, haben eine signifikant tiefere Wahrscheinlichkeit, affektiv polarisiert zu sein.
  • Demokratiezufriedenheit: Auch Befragte mit einer hohen Demokratiezufriedenheit weisen eine signifikant tiefere Wahrscheinlichkeit auf, stark affektiv polarisiert zu sein.
  • Ehrenamtliches Engagement: Ausgiebiges ehrenamtliches Engagement geht mit einer signifikant tieferen Wahrscheinlichkeit für eine ausgeprägte affektive Polarisierung einher.
  • Institutionelles Vertrauen: Befragte, die den Bundesrat als vertrauenswürdig empfinden, haben eine tiefere Wahrscheinlichkeit, affektiv polarisiert zu sein als Menschen, die ein tiefes Vertrauen in den Bundesrat haben.
  • Vertrauen in die Medien: Ein höheres Vertrauen in die vierte Gewalt geht mit einer tieferen Wahrscheinlichkeit für eine hohe affektive Polarisierung einher.
  • Soziales Vertrauen: Je eher eine Person neuen Bekanntschaften vertraut, desto tiefer ist ihre Wahrscheinlichkeit für eine ausgeprägte affektive Polarisierung.
Keinen Einfluss
  • Geschlecht
  • Bildungsgrad
  • Identifikation als Stadt- Land oder Agglomerations-bewohner:in
  • selbst eingeschätzter gesellschaftlicher Status
  • subjektiv wahrgenommenes Einsamkeitsgefühl
  • subjektiv wahrgenommenes Benachteiligungsgefühl
  • Präferenz, sich hauptsächlich über Zeitungen, TV und Radio zu informieren

Dies war der Studie erster Teil...

Diese Studie ist die erste einer dreiteiligen Reihe, die sich den Ursachen und Auswirkungen affektiver Polarisierung widmet.

In den nächsten Teilen vertiefen wir unsere Analyse der emotionalen Gräben und setzen den Fokus auf Sympathien und Antipathien zwischen verschiedenen Gruppen. So untersuchen wir in Teil 2 der Studienreihe, mit welchen Gefühlen sich die Wähler:innen verschiedener Parteien gegenüberstehen und wie die Stimmbevölkerung bestimmte gesellschaftspolitische Gruppen emotional bewertet.

In einem dritten Teil der Studienreihe vertiefen wir schliesslich, welchen Einfluss die affektive Polarisierung auf die Bereitschaft hat, Kompromisse einzugehen und auch mit jenen Personen und Parteien zusammenzuarbeiten, die einem besonders unsympathisch sind.

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Wer wir sind

Pro Futuris ist der Think + Do Tank der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft. Wir beschäftigen uns mit der Frage, wie Zusammenhalt in einer vielfältigen Gesellschaft funktioniert – und wie wir als Demokratie unsere Zukunft selbst gestalten können.

Für die Durchführung der Bevölkerungsumfrage arbeiten wir mit der Forschungsgruppe E-Democracy des Kompetenzzentrums für Public Management (KPM) der Universität Bern zusammen.

Die Studie ist ein gemeinsames Projekt von Pro Futuris und der Stiftung Mercator Schweiz.

Team

Isabel Schuler
Projektmitarbeiterin
isabel.schuler@profuturis.ch
Ivo Scherrer
Projektleiter
ivo.scherrer@profuturis.ch
Flurina Wäspi
Projektmitarbeiterin
flurina.waespi@stiftung-mercator.ch

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